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Ein Schwalbenflug über das Bereich der Südbahn

Peter Rosegger und seine Eisenbahnreisen

2023 begehen wir das Peter Rosegger (31.07.1848-26.06.1918) Gedenkjahr anlässlich seines 180. Geburtstages. Der große steirische Heimatdichter war leidenschaftlicher Bahnfahrer. Als Einstimmung auf das nächstjährige Gedenkjahr eine seiner schönsten Beschreibungen der Südbahnlandschaften.

Eine Freifahrkarte auf Lebensdauer, die er 1888 für alle Südbahnstrecken erhalten hatte, benützte er für berufliche und private Unternehmungen. Diese Begünstigung hatte er dem Südbahnbeamten Heinrich Freiheim zu verdanken, mit dessen Vater Rosegger befreundet war. Wie glücklich Rosegger über den Freifahrschein war lässt ein Brief von 1907 erahnen. Freiheim gratulierte Rosegger zum eben verliehenen Preußischen Kronenorden II. Klasse worauf Peter Rosegger antwortete:

     "Schönen Dank, lieber Freund, für den Gruß zu meiner Auszeichnung, die in dem Sinne, wie sie gegeben ist, mich von Herzen freuen muß.

     Mit treuem Gruß
     Peter Rosegger
     Besitzer der Eisernen Krone III. Classe
     Des Preuß. Kronenordens II. Klasse
     Der k. k. priv. Südbahnkarte I. Classe."

Der zu Lebzeiten bereits berühmte Literat war auch Werbeträger für die Südbahngesellschaft. So verfasste er für das Buch "Die Südbahn und ihr Verkehrsgebiet in Oesterreich-Ungarn", Herausgeber war die Südbahn-Gesellschaft das Vorwort „Ein Schwalbenflug über das(!) Bereich der Südbahn“ (1). Der Titel des Aufsatzes entspricht einer von Peter Rosegger verfassten Geschichte, die tatsächlich mit „Ein Schwalbenflug über das(!) Bereich der Südbahn“ überschrieben ist.

Heil euch Wanderer! Es hebt eine schöne Fahrt an.
Sie geht über die Ostalpen gegen das Land, wo die Citronen blühen und die blauen Wässer dämmern unter der Sonne Homers. Welch ein vielgestaltiger, wundersamer Weg! - Wir reisen auf der schönsten und ältesten unserer Alpenbahnen. Sie erstreckt sich in ihren Hauptlinien und zahlreichen Seitenarmen über zwei Königreiche, vier Herzogthümer und drei Grafschaften. Das Dampfross der Südbahn bläst heute seine Rauschwolken empor in die Masten der Weltumsegler und pfeift morgen um die Wette mit den Gemsen des Hochgebirges. Heute spiegelt es sich in den weichen Wässern des Plattensees, morgen löscht es seinen Durst mit Gletscherwasser. Wenn im Ostende der Südbahn, das ist dort, wo das magyarische Paris an der Donau liegt, die Sonne aufgeht, leuchten im Westende über den Thürmen von Bozen und Innsbruck noch die letzten Sterne der Nacht.
Damit ist das weite und mannigfaltige Bereich angedeutet, über das wir – ehe vorliegendes Buch alle schönen und eigenartigen Einzelheiten entfalten wird – nun einen flüchtigen Schwalbenflug unternehmen wollen, vorauseilend dem Zuge, der auf dem Wiener Südbahnhofe zur weiten Reise bereits versorgt und gerüstet steht.
Mählich versinkt die schlanke Nadel des Stefansthurmes im Dunstmeere Wiens. Von dieser gewaltigen Stadt aus zieht sich eine meilenlange Kette blühender Ortschaften und Städte, über denen freilich noch hunderte von Fabriksschloten ihre russigen Schleier spinnen. Aber schon hebt sich die Idylle der goldig grünen Weinberge von Gumpoldskirchen und Vöslau, und hinter den Kiefernwäldern des Steinfeldes bauen die Rücken des Wienerwaldes und die Höhen des Schneeberges. Die Alpen sind da. – Das erste Prachtstück der Südbahn, das Semmeringgebiet, wird durch Schlangenwindungen fast schmeichelnd erobert, unversehens kommen wir hinan in die Hänge der Felsen, zu den blumendurchdufteten, vogelsangumklungenen Almen und zu dem eigenartig schönen Sommer- und Winterfrischcurort, wie ihn in solcher Nähe nur unser Wien und keine andere Hauptstadt der Welt aufzuweisen hat.
Der höchste und der längste Semmeringtunnel ist das Thor zur grünen Steiermark. Ueber thaufrische Matten des Hochthales rollt es glatt dahin an den Ufern der Fröschnitz, der Mürz, der Mur, zwischen schattigen Waldbergen und den rosig leuchtenden Almkuppen. Die Ortschaften in weissen Mauern blinkend, die Einzelhöfe zumeist aus Holz mit steilen Bretterdächern, weissen Rauchfängen und malerisch durchbrochenen Söllern. Auf Hügeln graue Burgruinen, im Thale Eisenwerke und andere Fabriken, deren elektrische Lichter in der Nacht den reisenden solchen Glanzes ungewohnten Wiener fast erschrecken. Endlich im weiten Hügelkranz das frei hingebreitete Graz mit seinem Wahrzeichen, dem Schlossberg.
Weiter südlich die kornreichen Ebenen der mittleren Steiermark, die Obst- und Weingärten der Windischen Büheln. Wir überbrücken die Drau, den grössten Fluss des Landes, aus dem uns schon graues Gletscherwasser grüsst. Hinter dem malerischen Thalkessel von Cilli das thermenreiche Sannthal, die Schluchten der Save. Vom Radgebrause der Industrie ist im Lande der Wenden nicht viel zu hören. Die Landhöfe sind kleiner als in deutschen Gegenden, zumeist gemauert, mit Stroh gedeckt und hocken bisweilen etwas kümmerlich da, unter Obstbäumen. Gerne schmückt so ein Häuschen seine Aussenseite mit den goldgelben Kukurutzzapfen und mit kanarifarbigen Riesenkürbissen. Von Berghöhen schimmern weisse Wallfahrtskirchen weit in die Gegend hinaus, denn die Wenden lieben es, ihrem Gott bis zu den Bergspitzen entgegen zu kommen.
Ueber das Laibachermoor, auf welches die lichten Wände der Steineralpen herabgrüssen zur krainischen Hauptstadt, führen die Schienen zwischen herrlichem Tannenbestande hinan in die Steinwüsten des Karst – unserem staunenden Auge eine neue Welt. Und nach kaum zwölfstündiger Fahrt, von der Donaustadt her taucht der Eisenbahnzug an Miramare, dem betrübten vorbei, nieder zu den Wellen des adriatischen Meeres. Weichen wir von dieser Hauptstrecke bei Nabresina nach Westen hin ab, so geht´s an dem balsamathmenden Görz vorüber in das Seiden- und Weinland Italien. Biegen wir bei Divaca gegen Süden ab, so rollt es über das Gebiet der Höhlen und unterirdischen Wässer dahin bis in die Marinestadt Pola an der südlichen Spitze von Istrien. Und rollen wir bei St. Peter am Karst auf den Eisenschie-nen gegen Süden, so ist das eine Fahrt schnurgerade in den Orient hinein. Nicht viel mehr als eine Stunde dieser Fahrt, und man steigt nieder, wie etwa in Samaria an den Strand des mittelländischen Meeres. Da spielen die hochrückigen Hinterberge wie der Libanon. Der Karst-boden mit den kümmerlichen Oelbäumen, Lorbeerbüschen, Palmen und dem morgenländischen Bau der Dörfer und Steinhütten erinnert thatsächlich an das heilige Land. Wir sind am Quarnero, im Paradiese von Abbazia!
Das ist nun die Strecke von Wien bis zum adriatischen Meere. Wir könnten von ihr mehrmals von links ablenken, so bei Wr.- Neustadt und Pragerhof nach Ungarn und bei Steinbrück nach Kroatien. Gewiss auch Wege mit vielen Merkwürdigkeiten, allein sie würden uns zu sehr abseits führen von unserem Hauptziele, den deutschen Alpen. Die armseligen Lehmhütten der Puszta, sowie die stolzen Paläste von Budapest mit ihren schönen Ungarinnen allzuleicht aus jener einheitlichen Stimmung bringen, die wir uns für die lieben Hochländer zu bewahren haben. Also setzen wir beiläufig in der Mitte der Hauptlinie ein und fahren von Marburg drauaufwärts ins Hochgebirge.
Zur Rechten haben wir noch die Weinberge, zur Linken die finsteren Waldhänge des Bachergebirges. Hinter der Grenze Kärntens tauchen die kahlen Felsberge der Karawanken auf, und bei Klagenfurt erscheint das Prunkstückchen dieses Landes – der langgestreckte Wörthersee mit seiner Villenstadt. Hinter der aufblühenden Draustadt Villach nordwärts nahen wir der Tauernwelt auf Sehweite, überbrücken die graue Möll, die herab von den Eisgletschern des Grossglockners kommt, und biegen bald ein in das Tirolerland. Die Landschaft Kärntens weist wenig Fabriken, umsomehr Schlösser und Ruinen. Die Bauernhäuser, vielfach noch aus Holz, mit halbsteilem, an den Firstende abgeschopftem Bretterdache, dem steirischen Gehöfte ähnlich. In Oberkärnten die Berge wuchtig und steil, bis hoch hinauf von Häusern und Hütten bestanden. Die Bauernwälder durch das landesübliche Schnaideln arg gelichtet. Die Hänge und Schluchten reich an Wasserfällen.
Am Fusse der ersten Dolomitenfahren wir ins einzige Tirol hinein. Die Lienzerschlucht führt uns stets der wildstürzenden Drau entlang auf die sanfte grünen Böden des Pusterthales, wo selbst die Thalsohle in hoher Alpenregion gelegen ist. Im Norden die grossen einfachen Linien des Urgebirges, im Süden die berückenden Kalkgebilde der Dolomiten, an deren schauerlichem Thore das gastliche Toblach ruht. Ueberall baumlose Dörfer. Die Häuser statlich, zumeist aus Stein, weiss getüncht, ein bis zwei Stock hoch mit langen Fensterreihen. Die Schindeldächer nach Schwizerart flach, mit rohen Steinen beschwert, geziert mit dem hölzernen Glockenthürmchen, in dem das Glöcklein zum Beten und Essen läutet. Kein Fabriksschlot trübt die Bergluft in dem Lande Tirol, hingegen zeigen unzählige Kirchthurmspitzen zum Himmel empor.Keine Häusergruppe, in der nicht eine Kapelle stünde. An den Strassen ragen heilige Standbilder und Martertafeln, auf Feldwegen hohe, rothangestrichene Schutzkreuze gegen böse Wetter und andere Höllenmächte. Auf dem Plane weiden friedlich braun-und weissgefleckte Rinder. Lebendige klare Wässer überall, und hinter grünen Waldbergen leuchten graue Felsen oder weisse Gletscher herüber. – So sieht es aus in Tirol, besonders im Pusterthale bis dorthin, wo die Eisenbahn durch Tunnels und über Brücken ein-biegt in die düster gebettete Station Franzensfeste.
Wir sind hier zur dritten Hauptstrecke der Südbahn gelang, die von der Grenze des Deutschen Reiches bis zur Grenze von Italien zieht Wir nehmen die Strecke am schäumenden Eisak entlang, kommen shr bald inn die historischen Gelände der Bischofstadt Brixen und durch unwirtlich däm-mernde Schluchten zwischen dem Ritten-und Schlerngebiet hinaus in ein Thal, wo man hell jauch-zen muss vor Entzücken. – Es grünt der Lorbeer, es fächelt die Palme, es reift köstlicher Wein. Im Spiegel der Etsch zittert der glühende Rosengarten, über die Gefilde Merans hernieder leuchten die winterlichen Passaierberge Andreas Hofers. Es ist das unvergleichliche Thal von Bozen. Weiter an der Etsch hinab bleibt die Gegend noch hoch alpin, allein in den mit rohen Steinwällen eingefriedeten Gärten gedeihen üppig hesperische Früchte; es kommen die castellartigen Dörfer mit ihren ebenen Dächern und massigen Campanilen, und in welscher Sprache voll weicher Grazie grüßt uns der sonnengebräunte Italiener. Bei Ala übergibt die Südbahn den Reisenden dem Königreiche Um-bertos, und wenn das an einem frühen Sommermorgen ist, kann er einziehen zu den Thoren Roms, bevor die Sonne sinkt.
Nein doch, anstatt einmal hinaus, wollen wir zweimal herein in die lieben Alpen, die heimtraut bald für jeden sind, und käme er auch aus hohem Norden oder fernem Westen. Also blicken wir auf den Weg, der von Deutschland hereinführt.
Bald ausserhalb Münchens schon frischt sich des Fremdlings Herz, wenn sachte die blaue Zackenkette auftaucht im Süden und im Westen und im Osten. Auf einmal ist er im Kranz der Berge. Die Festung Kufstein am Fusse des Kaisergebirges bietet ihm das erste packende Bild der österreichi-schen Alpen. Hier gleitet er nach einer nicht besonders schmerzhaften Zollrevision dem Inn entlang, schon im Bereiche der Südbahn, die sofort beginnt, ihrer Berge Herrlichkeit zu entfalten. Aus den Zillerthaleralpen
her leuchten dem Fremden die ersten Gletscher zu. Und zur anderen Seite, ganz nahe oben zwischen dem Felsgebirge, durch einige Sprünge der Zahnradbahn leicht zu erreichen, dämmert der poesieumwobene Achensee. Dann entwickelt sich das grossartige Landschaftsbild von Innsbruck, dessen Lage nicht ihresgleichen hat. Der Reisende mache hier das Buch zu und die Augen auf.
Sofort hinter der Hauptstadt Tirols, am Fusse des glorreichen Berges Isel, muss der Reisen-de dem gewaltigen Gesammtbilde entsagen. Er wird entschädigt durch das Wandelpanorama der Brennerbahn, das mit jeder Minute einen anderen Berg, ein neues Hochthal oder einen reizenden Aufenthaltsort zeigt. In dem Baustile der Häuser glaubt der fremde Gast bereits italienischen Einfluss zu verspüren und mit gehobener Stimmung blickt er hin auf die glatte, sich durch Schluchten und über Matten schlängelnde Reichsstrasse, wo einst Goethe gewandert ist gen die classische Welt im Süden, merkwürdigerweise ohne die Schönheit der Alpen gewürdigt zu haben. Die Offenbarung dieser Schönheit hat des Himmels Gnade zur Erquickung dem gehetzten modernen Menschen aufgespart.
– Endlich ist es still geworden, die Wässer rauschen nimmer, die Maschine pfaucht nimmer, ganz oben rollt der Zug dahin im grünen Wiesenthale. Wir sind auf der Höhe des Brenners. Das Dampf-ross thut einen frischen Trunk aus dem Bergquell, und dann jodelt es einmal einen klingenden Almer. Der Reisende steigt aus und schlürft Luft, frische, prickelnde Alpenluft, die berauschend ist, wie ein Eis gekühlter Sect – wenn man das profane Gleichnis verzeihen kann. An den Berghängen, wo einzelne Hütten kleben, singen und jauchzen junge Kehlen. Die Bergfreude ist so gross, nicht zu sagen, darum muss man sie singen Südwärts hinab grüssen uns plötzlich – fast erschreckend nahe – die Gletscher des Stubaiergebirges. Von den Sommerfrischstätten Gossensass und Sterzing thun sich nach allen Seiten die Thore auf in das Hochheiligthum der Alpenwelt, wir sind im Herzen von Tirol. Wie drüben auf dem Berge Isel, so haben in den deutschen Freiheitskriegen auch hier auf dem Sterzingermooss siegreiche Kämpfe gegen die Franzosenherrschaft stattgefunden. In den nahen Eisakschluchten, gegen Franzensfeste hinaus, ist die Stelle, wo der Tirolerheld Peter Mayr, der Wirt an der Mahr, sein grauenhaftes Werk vollführt hat. Landes- und Geschichtskundige zeigen den Berghang, wo dieser Bauernführer eine Lawine schichten und dann niedergehen liess auf den ins Land ziehenden Feind, wobei viele Hunderte Franzosen zugrunde gagangen sein sollen. Aber nicht bloss hier im geographischen Centrum des Landes stossen wir auf Erinnerungen an die Tiroler Freiheitskämpfe, auch draussen an den Grenzen und Pässen stehen die Gedenksäulen, erzählend von der Grösse dieses armen Bauern- und Hirtenvolkes in jenem beispiellosen Streite. Hinter den Eisakschluchten gelangt der Reisende aus dem Norden nach Franzensfeste, wo er etwa die Südbahnstrecke durch das Pusterthal wählt oder die ins Etschland, um überall zu finden, dass alle Beschreibung die Naturschönheit dieser Länder auch nicht annähernd wiederzuspiegeln vermag. Um wieviel weniger kann mei-ne flüchtige Uebersicht einen eigentlichen Begriff geben – sie soll ja nur zur ersten Orientierung dienen in der landschaftlichen Welt unserer Südbahn. Unzähligemale bin ich diese Strecke schon gefahren, und nie noch habe ich mich eigentlich satt schauen können, selbst an dem, was man aus den Wagenfenstern sieht. Dann erst das Hinterland!
Die unzähligen Ausflüge, die von den Bahnhöfen aus sich bieten, die Erschliessung ungeahnter Naturschönheiten und eines noch ursprünglichen Volksthums. Dieses Volksthum stellt sich durchaus nichtan den Hauptstrassen zur Parade, da ist alles verwischt und verweltlicht; es hat sich zurückgezogen in die langen Seitenthäler, in die halbverlorenen Enggräben, in die Walddörfer und auf die Almen. Höfe, die so weit hinten und so hoch oben liegen, dass ein Sonntagskirchgang von ihnen aus eine Tagreise bedeutet, hüten noch Schätze eines grossen heiligen Volksthums. Dort sehen wir mit Staunen, wie altgestammt unsere Aelpler sind. Wie altgestammt und wie festhältig, wie tapfer und wie fröhlich, wie derb anfassend und wie mild gesinnt, wie entzückend heidnisch und wie rührend christlich zugleich!
Die Südbahn durchzieht vier grosse Völkerschaften und mehrere kleine. Ich will bloss den deutschen Bewohnern noch einen Blick zuwenden, und von diesen wieder nur jenem Theile, der im Kernpunkteunserer Runde steht: in Steiermark, Kärnten und Tirol. – Die wirtschaftlichen Verhältnisse sind sich durch das ganze Alpengebiet ähnlich: Feldwirtschaft, Waldcultur, Bergbau, Vieh-zucht, Wein- und Obstbau, Gewerbe. In Steiermark hat die Grossindustrie schon Boden gefasst, in Tirol herrscht noch das Kleingewerbe vor. In Steiermark überwiegt der Feld- und Obstbau, in Tirol die Viehzucht; Kärnten steht so ziemlich im Gleichgewichte zwischen beiden. Die Holzcultur blüht in der verkehrsstrassenreicheren Steiermark am meisten; die entlegenen Waldungen des Hochgebirges können kaum entsprechend ausgenützt werden. Die Berge sind auswendig in Tirol schöner, inwendig in Steiermark wertvoller. Hier das weltberühmte Eisen! – Die Häuserart haben wir schon gesehen. Der tirolische Bauer wohnt im ganzen schöner und würdiger als seine östlichen und südli-chen Nachbarn. In Bezug auf die Tracht geht die lederne Kniehose, die Lodenjacke, der Brustfleck, der gefederte Hut und der Bundschuh vom Semmering bis an den Ortler, an Form und Farbe natürlich verschiedenartig. Der Etschthaler mit der rothausgeschlagenen Jacke, dem mächtigen weitkrempigen Filzhut und dem breiten zierlich gesteppten Ledergurt sieht ganz anders aus als etwa der Ennsthaler in dem leichten Grünhütel, der grünausgebrämten Lodenjacke und der weissen Gatie am Knie, wo die schwarze Hirschlederne und die dunkelgrünen Wadenstrümpfe sich treffen. Die nackten Knie und der Gemsbart sind nicht überall daheim, wie es Volkssänger und Salontiroler glauben machen wollen. Am wenigsten auffallend schliesst sich der alpinen Tracht der Kärtner an, der überhaupt vielfach seine eigenen Wege geht. Nach meiner Wahrnehmung bleiben in der Stei-ermark und Tirol lieber die Männer, in Kärnten (siehe z. B. das Gailthal) die Weiber der alten Tracht treu. Den Tirolerinnen könnte man ob ihrer Tracht allzugrosse Eitelkeit nicht zum Vorwurfe machen, besonders denen nicht, die sich mit einem brettsteifen Fischbeinleibl den Busen verkümmern, wie man das besonders im Pusterthale sehen kann.
Diese Vorkehrung soll, wie der Herr Pfarrer meint, thatsächlich die reine Magdlichkeit bewahren. Na, dann ist´s ja gut. Aber freilich noch lange nicht schön. Dass in Tirol das junge Menschenge-schlecht noch nicht so aus trüben Nebenquellen spriesst, sondern aus der Hauptquelle, der Ehe, das ist auch was wert. Die Mundarten der drei Länder sind gerade so ähnlich, dass sie z. B. der Norddeutsche kaum voneinander unterscheiden kann, und gerade so verschieden, dass ein steiri-scher Waldbauer und ein tirolischer Almer einander nicht verstehen. Die steirische Mundart ist weich, geschliffen möchte ich sagen, die tirolische hart und eckig. Zwischen dem steirischen „Diandl“ und dem tirolischen „Dirndl“ steht das kärntnerische „Diandle.“ Die steirischen „Büabla“ haben die kärntnerischen „Diandlan“ gern, aber der tirolische „geweihte Buar“ jagt sie auseinander. Der Grundzug des Charakters ist beim deutschen Aelpler Altständigkeit, Bedachtsamkeit und gelas-sener Frohsinn. Beim Steirer schlägt eine gewisse leichtlebige Gemüthlichkeit vor, eine Art von Gleichgiltigkeit und Unentschlossenheit, die trotzdem nicht immer frei von Eigensinn ist. Eine wortkarge oder unter nichtssagenden Worten verdeckte Verschlossenheit, Misstrauen dem Fremden und Neuen gegenüber mag wohl davon kommen, dass den Leuten im Laufe der Zeit von aussen her oft recht schlimm mitgespielt worden ist. Uebrigens ist der Steirer sicher der gutmüthigste, weichherzigste und dabei der sinnigste unter den Alpenländlern. Der Kärntner ist radicaler angelegt, obwohl das Sprichwörtlein vom „lei lassen“ (gleich nur so gehen lassen, wie es geht) gerade bei ihm aufgekommen ist. Im Wesen ziemlich derb, im Handeln zielbewusst, hängt er, so viel mir aufgefallen ist, weniger am Althergebrachten, weshalb er leichter die Interessen der Zeit wahr-nimmt. Zudem erfreut er sich einer gesunden Sinnlichkeit, und die Prüderei ist ihm völlig fremd. Ein heller Kopf ist der Tiroler. Er ist der Frömmelei bei weitem nicht so ergeben, als der Ruf geht. Vielfach aus Klugheit hält er mit dem Clerus, an dem er stets eine verlässliche Stütze gehabt hat. Zu seinen Kirchen und kirchlichen Festen zieht ihn nicht bloss seine natürlich Frömmigkeit, sondern auch sein Kunstsinn. Wo aber Kirche oder Pfarrer seinem gut wahrgenommenen Interesse einmal entgegensteht, da wirft der Tiroler die „Rosenkranzbeten“ weg und ballt die Faust. Er kann ein gar unguter Geselle sein, wenn nicht Kunst- und Kirchsinn auf ihn einen sittigenden Einfluss nehmen. Ueber religiöse Unduldsamkeit wird sich der Fremde in Tirol wenig zu beklagen haben. Verlangt er Freitags nicht besonders herausfordernd sein Fleisch, lässt er dem Bergführer Sonntags seine Frühmesse und macht sich dem Cultus gegenüber keiner auffallenden Frevelhaftigkeit schuldig, so mag er Jude, Heide oder Atheist sein, er wird nicht angefochten. In der kräftigen Dorfschaft Tirols, der man den altgesessenen Bauernadel anmerkt, gibt es noch Wirtshäuser, unter deren patriarchalischem Regiment der Fremde sich wohl fühlen kann. Ich pflege die neuen prunkhaften Hotels mit allem, was drum und dran ist, fernab liegen zu lassen und in solchen Dorfgasthäusern einzukehren, da ist es besser, billiger und heimlicher, man wird nicht wie eine Nummer behandelt, sondern wie ein Mensch, und das thut selbst auf Reisen wohl. – Was besonders den Kunstsinn der Aelpler anbelangt, so möchte ich dem Steirer vorwiegend die Dichtung, dem Kärntner die Musik, dem Tiroler die bildende Kunst zuschreiben. Nicht die Kunstdichtung meine ich beim Steirer, in der sind die Tiroler dem östlichen Nachbarn zu jeder Zeit voraus gewesen. Wenn es sich aber auf dem Tanzbo-den um Vierzeilige handelt, oder in langen Winterabenden um Märchen, da können die Steirer dichten, und ihre Poesien werden Gemeingut weit über die Grenzen hinaus. In demselben Falle ist der Kärntner mit seinem berühmten Kärntnerlied, das in aller Welt gesungen wird, aber freilich nirgends so gut und recht als daheim. Das Talent der Tiroler für Bildschnitzerei ist allbekannt, ebenso auch, dass uns dieses Land hochberühmte Bildhauer und Maler gegeben hat. Und ihre dramati-sche Kunst, die wohl von den kirchlichen Scenen und Umzügen ihren Ausgang nehmen mag, sehen wir in den Passionsdarstellungen, besonders in den Meraner Volksschauspielen zu einer Art Voll-kommenheit gediehen. Der Tiroler ist unter den dreien der Selbstbewussteste und der Schneidigste, er hat unter ihnen das schönste Land, die grösste Geschichte und den weitestreichenden Ruf. Aber ein Fremder, der nach Tirol will und zufällig nach Kärnten oder Steiermark kommt, wird auf das allerangenehmste überrascht sein, auch hier vielfach das zu finden, was er sich von Tirol erwar-tet hatte. Unbedenklich kann er an jeder Station aus seinem Coupé steigen, er wird, wenn schon nicht immer bei dem ersten Anklopfen, so doch bei näherem Zusehen, eine gute Statt finden.
Bevor nun dem Leser dieses Buch mit seinen gewissenhaften und wohl verlässlichen Führern anheimgegeben ist, hätte ich noch ein kleines oder vielmehr grosses Anliegen vorzubringen. Man hat bisher gehört, dass sich überall in den Alpen Fremdenverkehrsvereine bildeten. Das war schön und kam nach beiden Seiten zustatten. Nun werden aber in neuester Zeit hie und da Stimmen laut, die von – Fremdenabwehrsvereinen sprechen! Es sei durch die Fremden nicht viel Gutes ins Land gekommen. Sie hätten allerlei neue Meinungen, Sitten, Gebräuche und Bedürfnisse gebracht, die Einheimischen auf ihrer Scholle gelockert, viele unzufrieden gemacht oder gar fortgelockt. Solches Weltgift richtet bei weitem mehr Schaden an, als das bisschen Geld, das die Fremden daliessen, Nutzen brächte. Die Leute systematisch erziehen, bilden, das wäre ja schön, aber das Raisonnieren, Locken und unsinnige Proselytenmachen für den modernen Geist könne nur vieles niederreissen, nichts aufrichten.
– Stimmen in diesem Sinne mehren sich von Jahr zu Jahr. –
Darum möchte ich allen, die das Glück haben, aufs Land, ins Gebirge zu gehen, nebst meinen Glückwünschen noch das eine herzlich bittend zurufen: Schonet das Volksthum! Schonet eine alte Weltanschauung, mit der es noch möglich war, glücklich zu sein. Schonet eine Ueberzeugung, bei der noch Charaktere gediehen sind. Ihr seid in unseren Bergen die lieben willkommenen Gäste, die Erholung, Anregung, Erweiterung von Kenntnissen und edle Genüsse finden sollen – so freuet euch harmlos mit uns über die herrliche Natur und über die einfachen Menschen, die trotz des kümmerlichen Loses bisher zufrieden gewesen sind bei ihrer treuen Arbeit und schlichten Lebens-weise, in einer Art Idylle lebend, wie man sie draussen in der Welt nicht mehr findet. Und soll schon Handel und Wandel sein, so traget nicht mit zu grosser Absicht Cultur in die Alpen hinein, freuet euch ihrer Natur und nehmet davon ein wenig mit in die Städte.
Und nun Heil euch, Wanderer! Es hebet eine schöne Fahrt an.

(1) Peter ROSEGGER: Ein Schwalbenflug über das(!) Bereich der Südbahn, in: K. k. priv. Südbahn-Gesellschaft (Hg.): Die Südbahn und ihr Verkehrsgebiet in Oesterreich-Ungarn, Wien-Brünn-Leipzig 1900, VI – VII.